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Step Back
„MOON/LUNO“ stand auf der digitalen Anzeige, während Wallig die Rolltreppe hochfuhr. Er schluckte. Es hatte ihn schon beim Frühstück im Hotel eine Art Kratzen im Hals beunruhigt. Wallig betrat das Welcome Center, das mitten in die Wüste gesetzt war. Der rasche Temperaturwechsel in der vollklimatisierten, verglasten Halle setzte ihm zu. Die Palmen und die überdimensionierten Wolkenkratzer warfen verzerrte Schatten ins Innere der Ausstellungskuppel. Die Luft ausserhalb der Glaskonstruktion flirrte.
Nur einige hundert Meter von hier sollte morgen das Spiel gegen Brasilien in einer der erst kürzlich hochgezogenen, monumentalen Arenen stattfinden. Das wohlhabende Emirat hatte die Hauptstadt nach dem Vorschlag einer französischen Werbeagentur in planetarische Zonen eingeteilt. Wallig und die Schweizer Equipe waren daher in den Sektor „MOON/LUNO“ geleitet worden. Die zwei Wörter, die sich ihm als Nachbild eingebrannt hatten, als er die Augen kurz schloss, stellten die Übersetzungen ins Englische und Esperanto dar. Das ebenfalls für morgen angesetzte Spiel zwischen den Auswahlen Südkoreas und Ghanas, so hatte er in einem kurzen Gespräch im Buggy vom Hotel erfahren, würde etwa im Sektor „JUPITER/JUPITERO“ stattfinden. „Unsere Sponsoren platzen vor Stolz, um Ihnen in 2022 eine planetarische Erfahrung zu ermöglichen“, konnte er auf einem der digitalen Screens lesen, die zu allen Seiten Botschaften sendeten.
Vor ihm lag das Gelände voller Mondkrater, in denen sich mobile Getränkestände und abgeschirmte Lounges befanden. Der Boden fühlte sich rau an. Die Nachbildung der Mondoberfläche war auf den ersten Blick, für einen Laien wie Wallig, durchaus gelungen. Ein Mitarbeiter, der ihn schon bei seiner Ankunft ins Auge gefasst hatte, näherte sich. Wallig war erschöpft, nahm sich aber vor, ihm dennoch mit einem Lächeln zu begegnen. Auf der Brust des Angestellten, der ein hellblaues Hemd trug und dunkle, gegelte Haare hatte, prangten die deutschen Landesfarben. Er stellte sich zunächst sehr höflich als Hassan vor. Absolvent der Emirates University. Wohnhaft in der Education City. Seit Monaten im Home-Office, um die Anreise der Fans nicht unnötig zu verzögern und seine eigene Vorfreude auf die Gäste aus aller Welt hochzuschrauben. Und ja, er hatte für ein paar Monate bei einer Investmentbank in Frankfurt am Main hospitiert. Grosse Gastfreundschaft genossen. Und seine Sprachkenntnisse akribisch per App verfeinert. Er erkenne die Deutschen sofort an ihrer Art, sich in Räumen zu platzieren, als würden sie unter der Schwerkraft stärker leiden als andere Nationen.
„Obwohl wir uns auf dem Mond befinden“, flachste er.
„Und ich Schweizer bin“, korrigierte Wallig.
„Wie kann ich Ihnen helfen, mein Freund? Vielleicht mit einem Erfrischungsgetränk?“
„Hassan“, fragte Wallig, „kann man hier auch Tee bekommen?“.
Hassan scannte das eng am Puls anliegende gelbe Armband, durch welches Wallig schon am Flughafen markiert worden war.
„Mit ihrem Status kann ich Ihnen leider keinen direkten Zugang zur Luna-Lounge eröffnen“, erklärte Hassan. „Ich werde Ihnen aber trotzdem einen frischen Minztee bringen. Kostenlos und als Zeichen unserer Gastfreundschaft. Heiss oder kalt?“, fragte er.
„Halt“. Wallig hatte sich zwar versprochen, das Wort aber trotzdem mit einer abwehrenden Geste begleitet. „Heiss“, korrigierte er sich.
Hassan verschwand an der Bar, wechselte einige Worte mit dem Barkeeper und brachte ein Glas Tee. „Geniessen Sie den Aufenthalt in unserem Welcome Center. Sie sind seit Kurzem in der Stadt? Dann begrüsse ich Sie herzlich! Sie können natürlich jederzeit eine Status-Aufwertung bekommen, die Zahlung per Kreditkarte ist bequem möglich“.
Der Tee schmeckte köstlich und intensiv. Sofort fühlte sich Wallig gestärkt. Er blickte aus der Fensterfront nach unten. Auf die Oberseite der auf dem Platz verteilten Sonnenschirme wurde ein Bild des Emirs projiziert, der offenbar in Kürze seinen Geburtstag feierte. Das Gesicht unter der Kufiya war halb verschlossen, halb träumerisch. Ein fein austarierter Schnauzer befand sich über den vollen Lippen. Darunter konnte man über eine App Glückwunsche und Grüsse an den Herrscher senden. In mehreren Sprachen rauschte das Lob vorüber. „Visionary“, konnte er lesen, oder: „Magnificent“. Von Zeit zu Zeit erschien ein über den gesamten Schirm ausgebreitetes Feuerwerk, das einen Epileptiker ohne weiteres hätte zugrunde richten können. Das Bild auf den Schirmen verzerrte sich, auch weil sich die vom Inneren der Glassscheibe hinzukommenden visuellen Eindrücke damit vermischten. Immer wieder wurden heisse Luftmassen über das Bild getrieben. Wallig verstand nun, wie sich bei den klimatischen Bedingungen eine Fata Morgana bilden konnte.
Er blickte nach draussen. Neben ihm bemerkte er einen Mann in einem kanariengelben Dress der brasilianischen Auswahl, der ebenfalls durch die Glasscheiben ins Nichts starrte. Auch dieser hielt ein Glas Tee in der Hand, wenngleich sein Armband grün war. Der Geruch nach Pfefferminze lag in der Luft. Wallig wiederholte: „Fata Morgana“. Doch der Brasilianer verstand nur „Fanta Morango“, wendete sich um und verwies ihn an einen Getränkestand, von welchem ein Mitarbeiter winkte. „Morango?“, fragte der Brasilianer. Er spräche ja kein Esperanto, antwortete Wallig. „Morango, das bedeutet Erdbeere“, erklärte der Brasilianer, „auf Portugiesisch, nicht in Esperanto“. Wallig winkte dem Angestellten ab und wendete sich seinem Smartphone zu, auf dem ihm nun eine Push-App mit Informationen über die Geschichte des Emirats sowie die Aufforderung zugesendet wurde, dem Emir einen Live-Glückwunsch zu hinterlassen. „Ich wünsche uns ein faires und aufregendes Spiel morgen“, gab der Brasilianer Wallig noch mit auf den Weg, dann wandte er sich wieder ab.
Wallig lief im Inneren der Glaskuppel weiter. Eine Flagge der Vereinigten Staaten von Amerika war in das spröde Pappmaché gesteckt. Das darauf ausgeschüttete körnige Granulat knirschte unter seinen Füssen, als Wallig drauftrat. Er rüttelte ein wenig an der Fahne, worauf eine kleine Drohne, die in etwa zehn Metern über ihm schwebte, einen Warnton ausstiess. STEP BACK, war drohend auf ihrem Display zu lesen. Bei der Bewegung, die er aufgrund des Schrecks machte, hatte er beinahe den letzten Rest Tee verschüttet. Was für ein blanker Unsinn, dachte Wallig, völlig idiotisch. Er fragte sich, warum man die Oberfläche des Mondes nicht unten im Wüstensand nachgebildet hatte, aber wahrscheinlich war es dafür einfach zu heiss gewesen. Die Kosten für die Klimatisierung der Anlage mussten exorbitant sein. Noch dazu spräche ja niemand mehr Esperanto. Er versuchte, sich an den Namen des ersten Mannes auf dem Mond zu erinnern, doch es gelang ihm nicht.
Wallig hatte die Reise bei einer Ausschreibung des Unternehmens gewonnen, in dem er seit etwa fünf Jahren tätig gewesen war und sich entschieden, alleine zu reisen. Er war unverheiratet und kinderlos. An dem sportlichen Wettbewerb, der in dem Emirat stattfand, zeigte er im Übrigen kein Interesse. Sofort hatte er sich aber für die Reise in den visionären Wüstenstaat begeistern können. Er liebte die Leere, aus der alles entstanden war und die überschüssige Phantasie, die sich daraus ergab. Wallig nahm sein Smartphone zur Hand und schickte eine Message ab.
Die Sonne schien immer unerbittlicher. Die Halle füllte sich mit den Fangruppen in roten und gelben Jerseys. Hassan redete auf die Neuankömmlinge ein und servierte Tee. Im Center wurde die Lautstärke der Ambient-Musik erhöht.
Eine App sendete ihm eine Nachricht auf das kleine Display am Armband. „Wie fühlen sie sich?“. Wallig ignorierte sie. Zwei Minuten später schob sie sich unter einer leichten Vibration wieder auf den Bildschirm.
„Eigentlich gut“, antwortete er per Sprachnachricht.
„Ihr Puls ist leicht erhöht“.
Seit seiner Abreise aus Zürich, der Ankunft am Flughafen und der Weiterreise in dem klimatisierten Humvee war er beinahe euphorisch gewesen. Der Humvee war in Schrittgeschwindigkeit die Promenade der Hauptstadt entlanggefahren, an der in regelmässigen Abständen Palmenbäume aufgestellt waren. Die futuristischen Gebäude im Stadtzentrum, die einen harmonischen, runden Eindruck vermittelten. Viele glückliche Menschen in sauberen Hemden, die in ihm einen Touristen erkannten. Arbeiter mit dunkleren Gesichtern, die sich abwendeten. Künstlich angelegte Wasserbecken und Sprinkleranlagen, die den Rasen netzten. Frauen, die den Blick niederschlugen, wenn Wallig sie anblickte.
Er war jetzt in einen Bereich gekommen, der für Kinder und Jugendliche eingerichtet war. Modelle des Mondes, die in Glaskästen aufbewahrt wurden und interaktiv bespielt werden konnten, erinnerten ihn entfernt an einen Laib Edamer. Wallig lief der Schweiss. Er wollte sich nun auf eine der Toiletten im Obergeschoss begeben, wozu er einen der Aufzüge bestieg. Die Loungemusik beruhigte ihn etwas, als der Fahrstuhl mit einem Mal beschleunigte. Aus dem verglasten Aufzug konnte er auf die Sonnenschirme blicken, die sich immer weiter von ihm entfernten. Unter dem Porträt des Herrschers stand jetzt „Danger“, wenn er es noch richtig sah. Aus dem unter ihm gelegenen Stockwerk fuchtelte Hassan mit den Händen. Er konnte nicht mehr erkennen, ob die Gesten wirklich an ihn gerichtet waren, da ein Balken für einen Moment sein Sichtfeld beschränkte. Schwindelerregend stürzte sein Blick in die Tiefe. Die Tür ging automatisch auf. Ein Mitarbeiter zückte ein Gerät und hielt es ihm an die Stirn. Das Temperaturmessgerät zeigte 38,4. Jemand griff fest um seinen Arm.
Auf der Oberfläche der Sonnenschirme stand jetzt für einen Moment GIANT STEP BACK FOR MANKIND eingeblendet.
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Drei Silben Glück
Veröffentlicht auf Portugiesisch auf „Ruído Manifesto“
Betritt man eine der klimatisierten Zaffari-Filialen, entweicht den Gesichtszügen aller Ärger und man wechselt in einen Zustand der Glückseligkeit über. Egal, ob man durch den Fußgängereingang oder das in der Regel unterirdische Parkhaus seinen je individuellen Zugang zu dem Markt findet, man wird von einem der freundlichen Mitarbeiter in weißen Hemden begrüßt. Sie – oder die automatische Stimme am Parkautomat – sagen: „- Genießen sie ihren Einkauf in unserem Verbrauchermarkt“ und meinen damit exakt das, was sie eben sagen. Trotz allem, das möchte ich betonen, lohnt sich ein Rest an kritischem Denkvermögen. Jedem der Einwohner unserer südbrasilianischen Landeshauptstadt dürfte die folgende Geschichte ja bekannt sein.
Wie die aus dem italienischen Piemont stammende Familie Zaffari vor zweihundertundfünfzig Jahren die Schiffskapitäne mit einigen Flaschen Hochprozentigem bestochen hatte, um als einzige an Bord gelassen zu werden. Der Zickzackkurs des Schiffes, der die Reise um einige Tage verlängerte, war wohl auf den Ausfall des polnischen Kapitäns, der die scharfe Grappa sofort genoss, zurückzuführen. Nur ein abgehalftertes Eichhörnchen, das nach einigen Tagen an den Kratzgeräuschen erkannt wurde, hatte sich außer den Familienmitgliedern auf das Schiff verirrt. Dieses Eichhörnchen sollte im Weiteren…naja, verschieben wir das auf einen späteren Zeitpunkt.
Luigi Zaffari, das älteste der zwölf Geschwister, stieg ungefähr an dem Ort, an dem heute das berühmte Gasómetro in den Himmel ragt, an Land. Er hatte ein kalkweißes Gesicht, mit dem er sich fraglos von der indigenen Bevölkerung absetzte. Er war der erste Europäer, der seinen Fuß auf den Boden Porto Alegres setzte. Wenngleich äußerst vorsichtig: Von der Reise hatte er eine schwache Konstitution. Sofort wurde er von neugierigen Einheimischen umringt, die mit ihren Zeigefingern seine weiße, talgige Haut betasteten. Er schreckte leicht zurück.
„Zigue, Zague, Zaffary“, verhöhnten ihn die Indianer, als er seinen Namen genannt hatte und sprangen wild im Kreis. Luigi schaute melancholisch in den blauen Himmel und wirkte, als würde er das Geschrei einfach an sich abperlen lassen. Dabei haftete ihm ohne Zweifel etwas Charismatisches an. Er wusste, dass ihm und seiner Familie das Schicksal günstig sein würde. Man dachte in dieser Familie nämlich seit immer schon groß, beinahe in planetarischen Dimensionen.
Erneut wurden die auf der Reise ausgearbeiteten Pläne im Familienrat besprochen und sogleich realisiert, denn die nächsten Schiffe mit den portugiesischen Kolonisatoren würden eintreffen und damit die Konkurrenz. Supermärkte mit einem umfassenden Angebot, das hatte es auf dem neuen Kontinent noch nicht gegeben und hochwertige Lebensmittel, das benötigte jeder. Man war sich sicher, dass bald mehr Siedler mit frischen Ideen dazustoßen würden und machte sich daran, den kleinen Vorsprung und das vorhandene Kapital bereits zu jenem Zeitpunkt kräftig auszubauen. Luigi wurde aufgrund seiner strategischen Fähigkeiten und dem Talent, Menschen für sich einzunehmen, vom Familienrat folgerichtig zum Anführer bestimmt.
Luigi erbaute dann auch eigenhändig die erste Filiale auf der heutigen Avenida Protásio Alves, die damals nur ein Sandweg mit ein paar vertrockneten Palmen war. Filiale für Filiale konnte schon nach kurzer Zeit eröffnet werden. Die Märkte bestachen durch hohe Qualität der Lebensmittel sowie Mitarbeiter, die die Grundrechenarten zwar mit den elektronischen Kassen eingebüßt, das freundliche Auftreten aber im Laufe der Jahrzehnte sogar verbessern konnten. Am Anfang begrüßte Luigi sogar jeden Kunden höchstpersönlich. Selbst die Gruppe Indigener, die ihn ausgelacht hatte, kaufte nun mit niedergeschlagenem Blick Campingstühle, Mate-Tee oder die importierten französischen Croissants, weil sie unschlagbar in Preis und Qualität waren. Und bis heute sind.
Einer der ursprünglichen Pläne Luigis war es, dass jeder Einwohner unserer Stadt seinen Wohnort über die Nähe zu einer der Filialen angibt – nicht, wie üblich, mit der Nennung des Straßennamens oder zumindest einer Himmelsrichtung. Viele der Einwohner Porto Alegres kennen ja nicht einmal das Konzept der Himmelsrichtungen und werden daher in anderen Teilen Brasiliens sofort erkannt und belächelt. „Norden – das ist da, wo sich die Zaffari-Filialen Wallig und Boulevard befinden“, versucht man in den Grundschulen des Stadtzentrums den Nachteil gegenüber dem Rest des Landes auszuwetzen. Beneidet werden die Einwohner trotz allem – und das nicht zuletzt der Märkte wegen, in denen man sich als Einheimischer sofort und intuitiv – natürlich auch wegen der sinnvoll sortierten Produktpalette – zurechtfindet.
– „Also ich wohne in der Nähe vom Zaffari Rio Branco“, hört man manchmal zwei Personen der Stadt sich gegenseitig vorstellen. – „Ach was, da habe ich als Student gewohnt, das waren wunderbare Zeiten“, erwidert der Gesprächspartner, „jetzt wohne ich in unmittelbarer Nähe vom Zaffari Bourbon Shopping. Aus meinem Apartment kann ich den Touristenbussen winken, welche die ‚Tour Zaffari‘ gebucht haben“. – „Das ist ein besonders beeindruckender Markt, herzlichen Glückwunsch“. – „Apropos, ich muss los, die täglichen Einkäufe erledigen.“ Besonders Kinder in der Findungsphase denken oft, der Markenname Zaffari wäre der Begriff für „Der, der uns speist“ und erlernen das Wort „Supermarkt“ erst mit acht oder neun Jahren. So wollte es also das Schicksal, dass der Name in jedem Alltagsgespräch, in jeder Sekunde, die in Porto Alegre verstreicht, hundertfach in alle Winde gesendet wird. Würde man etwa eine Wortwolke von allen gleichzeitig stattfindenden Gesprächen der Landeshauptstadt anfertigen, müsste das größte, hervorstechende Wort immer das dreisilbige Wort sein. Das war, bescheiden ausgedrückt, genial. Denn andere Supermärkte müssen ihre Werbung nämlich bezahlen.
Zudem bildet das dichte Netz der Zaffari-Filialen, aus der Höhe eines Flugzeugs oder den Maps betrachtet, die Umrisse eines Eichhörnchens. Naja, ein hässliches, plattes Exemplar, zugegeben. Denn dieses Eichhörnchen ist zugleich das Logo, oder sollen wir sagen: Wappentier des Marktes. Ein lustiges Eichhörnchen, das seinen Daumen, ganz brasilianische Art, nach oben streckt. Achso, da war noch was: Luigis Bruder Federico, ein Knirps von sechs Jahren, hatte sich auf der Schiffsreise, im Jahre 1772, diesem Wesen angenommen und es mit seinen Vorräten gefüttert, so dass es tatsächlich, trotz Seekrankheit, bis zur Ankunft am brasilianischen Festland am Leben geblieben war. Leider verschwand es nach einigen Tagen der Pflege unter ungeklärten Umständen aus Federicos Händen. Das Eichhörnchen soll übrigens noch Jahre später im Parque da Redenção gesehen worden sein, wo es sich nächtlich, wenngleich freiwillig, prostituierte. Man setzte ihm schließlich im Logo ein Denkmal. Denn so ein Logo brauchte man unbedingt, auf den Plastiktüten konnten ja unmöglich nur ein paar Buchstaben stehen.
Von außen weisen die Filialen übrigens ihren je eigenen, aber auch übergreifenden architektonischen Stil auf. Ein stark kurzsichtiger Kunde oder jemand, der seine Brille verlegt hat, wird seinen Markt unter allen Umständen wiedererkennen. Aber das ist nur die mehr oder weniger sichtbare Seite. Niemand, außer den zur absoluten Schweigepflicht angehaltenen „goldenen Mitarbeitern“, weiß beispielsweise, nach welchem System die einzelnen Supermarktfilialen in einem Tunnelgang miteinander verbunden sind. Unter der Stadt hat sich dabei eine Art zweite Stadt entwickelt, auch deshalb scheint ihr oberer Teil an manchen Tagen eigenartig leer. Leider sind, trotz des insgesamt harmonischen Arbeitsklimas, Fälle von Mitarbeiterinnen vorgekommen, die in nervöser Umnebelung nicht mehr wissen, in welcher der Filiale sie angestellt sind, keinen Ausweg mehr finden und sich den Kopf an einer der Wände kaputtstoßen. Wenngleich das in den letzten Jahrzehnten, in welcher das Unternehmen auch das Privatleben seiner Mitarbeiter betreut, immer seltener und eigentlich eine absolute Ausnahme geworden ist. Nicht einmal die Hemden können dann übrigens wiederverwendet werden, denn die Blutflecke bekommt man nicht gut entfernt und unbedingte Sauberkeit ist eine der Hauptpflichten der Mitarbeiter. Ein Fakt, von dem man sich täglich, von 7-22 Uhr überzeugen kann. An Feiertagen etwas kürzer, dafür scheinen aber die Hemden an diesen Tagen noch weißer und die Mitarbeiter noch kulanter, was Reklamationen angeht – diese kommen allerdings nur theoretisch vor.
Und so hatte sich die damals vom blassen Luigi Zaffari gestifteten Einrichtungen über die Jahre vom Supermarkt zum Hypermarkt gemausert, eine Entwicklung, die nur mit der kometenhaften Karriere eines anderen Gaúchos, Ronaldinhos nämlich, vergleichbar war. Eines Cracks, dessen Karriere wahrscheinlich auf den erstklassigen Produkten fußt und der seine wahnsinnigen Finten den plötzlich ausgerufenen Sonderangeboten zu verdanken hat, denen er in seiner Jugendzeit nachgejagt ist. Unsere ganze Region befindet sich also schon immer auf aufsteigendem Kurs und es ist eigentlich ein Rätsel für nachfolgende Generationen von Historikern, warum die Bevölkerungszahlen der Hauptstadt nicht explodiert sind. Erklären lässt sich das wahrscheinlich nur mit den kalten Wintern, in denen aufgrund des Mangels an Orten, an denen man ohne Kleidung auskommt, kein Nachwuchs produziert wird. Im besten Falle kommen noch Küsse zustande, in dem der heiße Chimarrão von einem Mund zum anderen schwappt, während ein dritter trinkt, aber davon wird einem zwar warm, man bekanntlich aber nicht schwanger. Tatsächlich ist in der ganzen Stadt kein Fall von Menschen bekannt, die im April oder Mai geboren sind. Sonst wird die Person natürlich von Einwohnermeldeamt eindeutig als Zugezogener erkannt.
Doch nun endlich zu den dunklen Seiten, denn das Ganze soll ja nicht nur ein Loblied sein – und damit meine ich nicht die Familiengruft, in welcher Luigi Zaffari heute, mit geschlossenen Augen, zufriedener Miene und eben gut klimatisiert, aufgebettet ist. Auch nicht die Tageszeit, die auf den fantastischen Sonnenuntergang an der Guaíba folgt. Jede der Zaffari-Filialen verfügt nämlich neben Toiletten, die sauberer sind als jedes Privat-WC sowie einer Obstabteilung, die gefällig beleuchtet ist, selbstverständlich über ein Unbewusstes. Zum Beispiel passieren manchmal ganz unglaubliche Dinge, aus einem Automatismus heraus. So stehen plötzlich alle Mitarbeiter wie hypnotisiert auf, stellen sich in eine Reihe und fangen zu klatschen an, wahrscheinlich, weil sie einfach glücklich sind. Oder ein Mitarbeiter an der Kasse ruft plötzlich wie in Zungen aus: „Das ist ja zaffarig!“. Ein Wort, dass es nachweislich nicht gibt, dessen Semantik, die eigentümlicherweise jeder versteht, aber wohl irgendwo zwischen prachtvoll, üppig und königlich changiert. Auf Nachfrage wissen die Mitarbeiter nicht einmal warum sie das getan haben, nur, dass es sich richtig angefühlt hat. Neben dem offensichtlichen Glück gibt es offenbar sogar noch spontan freiwerdendes Glück, das bis dato verdrängt war. Der Einwohner unserer Stadt lässt seinen Gefühlen eben gerne freien Lauf. Erklären lässt sich so etwas nicht. Aber was macht das schon, jeder Moment ist einzigartig und die Erinnerungen Schall und Rauch. Und Zaffari ein besonderer Markt in der Geschichte unserer großartigen, zweihundertfünfzigjährigen Stadt.
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Der Butt
Carmen sah ja, was die Bilder überall anrichteten. Wie sie wüteten in den Köpfen. Beinahe unbemerkt. Und doch, sie konnte das nicht einfach so ausblenden. Die geschickt belichteten Körper, auf den Oberflächen angeordnet und optimiert. Sie gab sich doch wirklich Mühe damit. Auf ihrem Likes-Konto herrschte meistens Leere. Da waren nur einige Männer, denen ihre Posts gefielen, und die hatte sie eher uninteressant gefunden. Vom schönen Gabriel, den sie vor zwei Tagen flüchtig in einer Bar kennen gelernt und geküsst hatte, bevor er völlig betrunken den Abflug in die Nacht machte, keine Reaktion.
Flunder hatte man sie manchmal gerufen. In Rio de Janeiro, in den Sommermonaten, würde sie mit ihrem wenig ausladenden Hintern nichts reißen, das galt als sicher. Wenn sie aber jetzt plötzlich mit so einem gelifteten Prachtarsch antanzte, würden sie schon Augen machen. Francine und Priscila zum Beispiel, die von Natur aus gut ausgestattet waren. Von wegen Fitnessstudio, würde sie prahlen. Wenn Carmen also mit so einer Prallheit aus der Quarantäne platzte. Ihr Vater, der in der Stadtverwaltung tätig war, würde für seine Prinzessin schon etwas springen lassen. In your face, wie man in ihrem Freundeskreis sagte. Sie könnte die Reaktionen mit einem Filter oder simplem Photoshop erproben und dann, zack, von einem auf den anderen Tag Ernst machen. Dann war Schummeln nicht mehr möglich. Dann würde sie auf der Nossa Senhora da Copacabana innerhalb von Minuten eine gewaltige Marke hinterlassen.
Carmen würde nur kurz im klimatisierten Wartezimmer der Privatklinik sitzen. Der kühle Händedruck des Chirurgen. Seine souveränen Bewegungen würden ihr genügend Sicherheit für die anstehenden Stunden geben. Sie würde geräuschlos, auf einem der metallenen Betten, ins OP-Zimmer geschoben werden. Ein letztes Einverständnis in Form eines erhobenen Daumens. Ein Knistern, das sie nicht würde verorten können. Eine Ladung Fett würde nun von ihren Hüften und Oberschenkeln gesaugt. Ihr Arsch den Operateuren unter gleißendem Licht aufgetischt. Dann würde schon ein feines Messer durch ihr Gewebe fahren, an den vorher aufgezeichneten Linien entlang, in einem gleichmäßig beschleunigten Schnitt tief und tiefer in ihre Haut eindringen. Gelee. Das würde sie gar nicht bemerken. Die Hälfte ihres Körpers befand sich natürlich unter Narkose. Die Blicke der Ärzte hochkonzentriert. Gleichmäßiges Atmen.
Wie die Kardashian auf ihrem Instagram-Kanal. Ein astronomischer, universeller Arsch, zwei Vollmonde. Perfekte Rundheit. Die symbolisierten ohne jeden Zweifel den Kosmos. Ein perfekter Männertraum. So, in einem geistig-körperlichen Universum könnte man einen Mann wahrscheinlich für ein Leben lang, aber wenigstens so lange die Ladung den Popo oben hielt, an sich binden, dachte Carmen. Der musste auch nicht mühsam in andere Sprachen übersetzt werden, das leuchtete jedem ein.
Ein alter Mann im Fußballtrikot löffelte entspannt Açai mit reifen, das Licht aufgespeicherten Erdbeeren in einer der Bars in Copacabana. Neben sich hatte ein Kind mit geflochtenen Zöpfen die Beine angezogen und blickte abwesend auf seine Puppe. Flipflops schlurften über den Boden. Leichter Wind spielte mit den Palmen. Carmen spazierte am Strand entlang. Hochpreisige Fahrräder und austrainierte Jogger zogen vorüber. Wieder war keine Nachricht von Gabriel eingegangen, als sie auf das Smartphone blickte.
Eine orange gekleidete Putzkolonne fegte den feinen Sand im Akkord vom Gehsteig. Sie würde die aufeinander abgestimmten Bewegungen der Müllmänner schon brechen, dachte sie, wenn diese plötzlich ihre Blicke zu ihrem Hinterteil aufrichten sollten. Vielleicht sogar das Geräusch krachenden Bleches genießen, wenn einer der Autofahrer versucht hatte, ihrem Nates im Rückspiegel hinterher zu blicken und eine Sekunde nicht auf das vor ihm abbremsende Fahrzeug geachtet hatte. Wildes, hitziges Hupen und gegenseitige Beschimpfungen müssten darauf folgen. Ihren Freundinnen würde sie das später, am Freitag, bei einem Getränk an der Lagune erzählen. Selbst die Bälger würden von den am Strand errichteten Sandskulpturen aufblicken, weil sie unbedingt mitbekommen müssten, wie die Väter, von einer unnachgiebigen Kraft berauscht, ihre Blicke auf Carmens Gesäß nicht zügeln könnten.
Ein Arsch wie eine Blechtrommel, so ein schöner Butt. Nein, das waren nicht nur Titel von Grass-Romanen, von denen Carmen im Übrigen nicht einmal gehört hatte. So ein German Günter wäre ohnehin nicht ihr Strandabschnitt gewesen.
Das Fett würde dann literweise in die Gesäßmuskeln gespritzt. Der Druck weiter zunehmen. Der Chirurg hatte das im Griff. Rosa Fettinseln würden sich vielleicht an einer Stelle zusammendrängen und überquellen. Die Melange auf das weiße, desinfizierte OP-Bett suppen. Irgendein Assistent mit transparenten Gummihandschuhen das später wegwischen müssen. Eine routinierte Handlung, die er schon hundertmal unter dem stechenden Geruch nach Formalin verrichtet hatte.
Sie, Carmen, musste dann nur lernen, wie man ihn spazieren führt, den neuen Popo. Wie man ihn am besten beim Samba in einer der Bars in Leblon einsetzt. Mit kühlem Champagner würde sie auf ihren neu modellierten Arsch anstoßen. Ein Bumbum, wie man hier sagte. Ein dickes, fettes feministisches Statement, das vielleicht auch. Der noch Sekunden nachwippte, wenn man geschickt draufschlug. Ein Recht, das sie bestimmt nicht jedem der Männer einräumen würde, die sie jetzt nicht mal anblickten, wenn sie auf der Nossa Senhora, nahe dem weltbekannten Strand, entlanglief, um ihren Marktwert auszutesten. Das war schon klar. Ein Privileg würde es sein, auch nur in die Nähe dieses Fluchtpunkts männlicher Selbstbefriedigung gelassen zu werden. Der untere Teil der Körper verfügte über eine andere, instinktivere Sprache, das wusste sie. Da waren der schöne Gabriel und sie für Minuten auf einer Wellenlänge gewesen. Mit seinen kräftigen Händen hatte er geschickt ihren Körper abgefahren und auch Carmen hatte das Prozedere erwidert. Dabei war, dachte sie, sein Popo auch kein Hauptgewinn gewesen.
Sie war in Richtung des Leme-Strands gelaufen. Immer spärlicher nahmen sich nun die Strandbars aus. Dass ihr gerade jemand, ein gar nicht so übler und sportlicher Boy übrigens, tief in die Augen und vielleicht in den Ausschnitt zu blicken versuchte, bekam Carmen mit Blick auf das Display nicht mit.
Hektik würde sich breitmachen. Unter Dämmernarkose, halb weggetreten, würde sie das kaum bemerken. Vielleicht zuerst in den Augen einer der Assistenten, wenn alle sich in heller Aufregung befänden. Verzögert, gedämpft würde das zu ihr durchdringen. Das OP-Bett aus dem Saal gleiten. Die Nossa Senhora würde sie nun aus dem Rettungswagen betrachten. Auf dem Weg in die Notaufnahme. Der schwammige Blick auf die hängende, schlappe Kochsalzlösung. Auch krachendes Blech und Blicke, aber wegen des eiligen Alarms des Rettungswagens. Klümpchen in einer der Venen. Fettembolie würde die Diagnose lauten. Spüren würde sie davon nichts mehr. Noch einmal lächeln in Gedanken an die Fotografien von erfolgreich operierten Frauengesäßen, die man ihr vorgelegt hatte. Bevor alles schwarz werden würde. Priscila oder Francine die traurige Neuigkeit auf ihren Profilen posten, die für ungeheure Anteilnahme sorgte. Vielleicht würde der schöne Gabriel sie dann einmal so wahrnehmen, wie sie es verdiente.
Carmen bog in eine der Seitenstraßen ein, während sich die Müllmänner im Schatten von der Arbeit ausruhten.
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Polnischer
Auf der Shortlist des Deutschen Kurzgeschichtenwettbewerbs 2021
Reste von abgestandenem Riesling, kalter Platte, dazu Zigarettenasche auf dem Ärmel. Er muss wohl eingeschlafen sein, denkt Jean. Schlägt die Augen wuchtig auf und schlägt sich in Richtung der Theke durch. Grelle Leuchtreklame blendet. Er will das letzte Bier begleichen, denn wenn ihn sein Gedächtnis nicht trügt, ist das noch offen. Die Barkeeperin steht gebückt, mit dem Rücken zu ihm, fummelt an irgendeiner Dichtung.
Auch Maja ist längst weg. Hat sogar noch den letzten Schein aus seiner Geldbörse gefischt, wie er auf halbem Weg feststellt. Also die in der Tasche geknüllte Maske aufziehen und Beine in die Hand nehmen, sagt er sich. Er macht jetzt schon ein paar Schritte. Wie der Raum plötzlich in die Tiefe zu fluchten beginnt. Sein Herzschlag beschleunigt. Endlich ist die Tür in Reichweite. Kurzer Blick zurück: Gefühlt sind hier alle der eingefallenen, talgigen Fressen sowieso am wegdämmern. Er hört noch die Stimmen hinter ihm. Die kommen ihm eher halbherzig vor, vielleicht sind es auch schon die der Passanten. Gutes Zeichen, denkt er, als er um die nächste Straßenecke biegt. Jean zieht sich die Maske vom Mund und der schlechte Atem der Nacht verteilt sich in alle Winde. Samariterstraße, liest er noch. Erst dann dringt die frische, eisige Luft in seine gebeutelten Lungen.
In einer neuen Stadt genießt man zwei, höchstens drei Tage den Schimmer des Fremden. Das spürt man an den Blicken. Danach gleicht man sich wieder nach und nach seiner Umgebung an, denkt er. Und so ist es auch. Niemand sieht ihn an – das ist vor einer Woche noch ganz anders gewesen. Er fragt sich, woran das wohl liegt. Und ob das überall so ist.
Es wird eher widerwillig, fast schmerzhaft hell, wie immer im Winter. Der Himmel ist ein grauer Mischmasch und hängt tief. Leute holen mit miesem Gesichtsausdruck Brötchen, noch ein paar Lines von ihrem Dealer oder ziehen eine Runde mit ihren Kötern um den Block. Nur mit Mühe deutet sich Jean den Weg zurück. Außer Maja kennt er ja gerade niemanden hier, auch wenn er ihre Art längst über hat. Jeden Tag seit seiner Ankunft sind sie nämlich in eine der Kneipen im Friedrichshain gegangen. Und es ist immer dasselbe mit ihr: Sitzt da, dreht sich ab und an eine Kippe, polkt wie blöd im Tabak, sagt die ganze Nacht kaum ein Wort und macht dann, mir nichts dir nichts, einen Abgang. Diesmal sogar, ohne dass es Jean überhaupt mitgeschnitten hat. Vielleicht hat sie die letzte Runde bezahlt, das wäre auch möglich. Was macht das aber schon für einen Unterschied. Am Horizont sieht er die in frischen Farben gestrichenen Plattenbauten von Lichtenberg, die mit dem Grau des Himmels kontrastieren. Away, steht in ihrem Whatsapp-Status, als er kurz stehen bleibt und sein Telefon checkt. Das wäre gut, einfach wieder weg von hier, denkt er.
Kaffeeduft, als er an einer der letzten Bio-Bäckereien vor der Bezirksgrenze vorbeiläuft. Da steht ein leerer Kinderwagen mit Regenüberzug. Vor einer Sportsbar kneift ein Gast die Augen zusammen: Zur Versicherung, dass das, was er da sieht, auch wirklich die Realität ist. Der klopft sich die Schuppen vom Pulli, macht einen Satz vorwärts und torkelt los. Auch Jean überquert die Frankfurter Allee. Die soll geradewegs nach Polen führen, hat ihm jemand gesteckt. Das ist schon abgefahren, denkt er, immer geradeaus und schon steht man an der Grenze zu einem anderen Land. Ein SUV fährt dicht am Gehweg entlang und bespritzt ihn mit etwas Schneematsch. Er könnte sich ärgern, bemerkt aber dann mit Blick auf die verfleckte Hose, dass es eigentlich auch egal ist. Jean ist nämlich keiner, dem es um Prinzipien geht. Er zündet sich eine der wenigen verbliebenen Zigaretten an. Lucky Strike, immerhin.
Er hat noch für ein paar Tage den Schlüssel zu der Wohnung von Majas Cousin, auch wenn die Internetverbindung dort ein Flickenteppich ist und die Heizung ab und an wie wild bollert. Auch lassen die wenigen, lieblos auf engem Raum angeordneten Gegenstände nicht gerade daran denken, dass es sich jemand für besonders lang dort eingerichtet hat. Den Cousin von Maja hat er eigentlich noch nie zu Gesicht bekommen. Weiß nicht mal seinen Namen. Aber wer jetzt den Schlüssel zu einem trockenen, warmen Zimmer in dieser Stadt hat, sollte das nicht weiter hinterfragen. Um ein Vielfaches besser jedenfalls, als die Zeit in einem Shopping-Center abzusitzen, auf den unbequemen Bänken den Rücken durchzustrecken und für die strengen Wachmänner bella figura mit einer OP-Maske zu spielen, die schon nach den ersten Tagen der Pandemie überm Zenit war. Jean kann sich eigentlich überall zuhause fühlen, wenn er nachts die Rollläden zumachen und ein bisschen für sich selbst sein kann.
Mit dem Schließen der Tür sind jetzt auch die Verkehrsgeräusche geschluckt. Sogar etwas Kaffee ist noch in der Packung auf dem Küchentisch übrig. Den gönnt er sich, bevor er sich in Unterwäsche und Socken auf die durchgelegene Matratze legt. Er blickt sich noch einmal um: Alles wirkt irgendwie arrangiert, denkt er, gerade weil es wie lose hingeworfen, also wie das Gegenteil einer spontan entstandenen Ordnung aussieht. Sogar ein bisschen Spielzeug liegt in einer Ecke des Wohnzimmers, aber ein Kind kann er sich hier beim besten Willen nicht vorstellen. Zu karg ist es dafür. Er erinnert sich an eine Doku über Heimkinder in Rumänien, die er mal gesehen hat, da lagen dreißig von denen mit starren Gesichtern in so einem Zimmer verteilt und vegetierten vor sich hin. Jetzt, da er genauer hinsieht, ist es vielleicht gar kein Spielzeug, sondern nur irgendwelcher Plunder.
Als er wieder aufwacht, fragt er sich zunächst, wieso sie ihn hierher, nach Berlin, bestellt hat. Im Januar, the cruelest of all months. Erst dann macht er sich Gedanken, warum er auf ihre Nachricht hin ohne zu zögern gekommen ist. Obwohl er Maja kaum kannte, jedenfalls nicht in dem Sinne, den man gemeinhin mit Begriffen wie gute Bekanntschaft oder gar Liebesbeziehung auf einen Nenner bringen kann.
Die Kopfschmerzen machen sich jetzt irre bemerkbar, da die beiden gestern alles durcheinander getrunken haben. Der Riesling war der Höhepunkt, dann wurde das knappe Budget realistischer aufgebraucht, Bier und Schnaps sowie ein paar Happen von der kalten Platte haben sie sich gegönnt. Maja trug ihr Haar etwas kürzer, das stand ihr eigentlich sogar gut. Ein bisschen witzig waren die Gespräche ja schon, manchmal hat sie es ja doch auf die Reihe bekommen, ein paar vernünftige Worte mit ihm auszutauschen. Dabei hat sie ihn immer so schräg angeschaut, er hat keinen Schimmer warum.
Nach einer heißen Dusche, nach der seine Haut ganz rot schimmert, checkt er wieder ihren Status. Away, wie gehabt. Also warten, denkt er, bis er etwas aus ihr herausbekommt. Obwohl er langsam selbst keine Lust mehr hat, jeden Tag in irgendeiner Bar mit einer Frau abzustürzen, aus der man nicht schlau wird.
Am Berliner Hauptbahnhof ist er ein paar Tage vorher angekommen, dutzende Rollstuhlfahrer schimpften, weil die gläsernen Aufzüge völlig wilde, undurchsichtige Moves fuhren. Dazwischen Ansagen von Zugverspätungen und irgendwelchen unbrauchbaren Abteilen. Wahrscheinlich verpassten sie alle ihre Züge nach Hannover oder Mannheim und man konnte ihnen nicht mehr helfen. Jean wollte das vielleicht auch nicht und hatte es lieber, ihre aufgebrachten Gesten aus der Halbdistanz zu beobachten. Wie die Masken über den Tiraden nach innen auf die Münder hin zuckten. Die Brillen beschlugen. Der Griff um die Wodkaflasche sich festigte. Er fand es irgendwie schmierig, aber auch ok. Besaßen die Anspruch auf Schadenersatz? Und: Ist so eine Wut eigentlich angemessen zu begleichen?, fragt er sich.
Wie immer hatte er sich hingegen nicht weiter gefragt, was in den folgenden Tagen noch passieren würde. Es hat ja keinen Sinn, sich vorher die Birne zu zerbrechen, was der Grund für Majas Entscheidung war, ihn zu kontaktieren, denkt er. Er hatte sie im Übrigen vor sechs Jahren bei einem Event für Rauchwaren kennengelernt, bei dem sich beide für den brasilianischen Mata Fina-Tabak begeistern konnten. Ein paar Mails folgten, in welchen sie, halb Ernst, halb Spiel, von einer Reise an den Amazonas, nach Rio de Janeiro und São Paulo schwärmten. Als er sich die Routen auf der Karte ansah, erschien das aber beinahe als ein größenwahnsinniges und irgendwie aussichtsloses Projekt. Er dachte an die mächtige Sonne, die dort schien und an seine empfindliche Haut. Dann war wieder Funkstille.
Nachdem er nach der Ankunft am Hauptbahnhof mit der neugebauten U-Bahnlinie zur Station Magdalenenstraße gefahren war, hatte er den Schlüssel zur Wohnung abgeholt und für anderthalb Stunden aus dem Fenster gestarrt. Da war nur ein austauschbarer Park zu sehen, auf dem einsam ein Kind in einem roten Schneeanzug schaukelte, der sich wie wild von dem Matsch absetzte. Das erste, was er immer in einer unbekannten Wohnung machte, war, aus dem Fenster zu sehen.
Jean wärmt die Spaghetti Bolognese vom Vortag auf, schlingt, er ist hungrig. Das Essen kommt ihm wie eine Hinrichtung vor. Er gießt den Rest kalten Kaffee hinterher, der ihn etwas pusht. Überfliegt ein paar Artikel auf seinem Telefon und sieht, wie die gerade gewonnene Tageshelle nach und nach wieder vorüberzieht. Dann legt er sich nochmal hin, da ihn die Müdigkeit und Sinnlosigkeit des Sonntags überfällt. Als er aufwacht, hat ihn Maja bereits in eine andere Bar befohlen. Wenn du nicht in 10 Minuten absagst, mache ich mich auf den Weg, hat sie geschrieben. Dann zwölf Minuten später ein Emoji gesendet: 3,2,1, go. Also verlässt er kurz danach ebenfalls die Wohnung. Er entscheidet sich für den Fußweg und blickt in die vorbeifahrenden Straßenbahnen, deren Innenbeleuchtung eine unbestimmte Sehnsucht weckt.
Diesmal sitzt sie bereits da und trinkt Rotwein. Blickt kurz auf, als er kommt und seinen Mantel ablegt. Nickt nur und schweigt von der ersten Sekunde an. Das geht ihm heute voll gegen den Strich. Er bestellt das günstigste Bier vom Fass, vielleicht als Statement gegen den Wein, wenn er schon auf nichts sonst antworten kann. Die Maske baumelt noch an ihrem Handgelenk, Maja muss wohl erst vor kurzem selbst eingetroffen sein, bemerkt er. Auch, dass er eine kurze Lunte hat. Jedes Wort von ihr wird ihn reizen. So kann es nicht weitergehen, denkt er sich. Jetzt muss er ein Machtwort sprechen.
– Auch, wenn das jetzt etwas direkt ist, schneidet sie sein Vorhaben und nimmt einen kräftigen Schluck vom Wein: Ich wollte dich fragen, ob du mich vielleicht heiraten willst.
– Wie bitte?
– Du bist mir nicht unsympathisch. Außerdem habe ich ein Jobangebot bekommen, da kriegt man Heiratszuschlag. Das Geld könnte uns beiden helfen, das Unternehmen wird den Unterschied kaum bemerken. Und außerdem: So unterschiedlich scheinen unsere Interessen ja nicht zu sein.
Jean schweigt. Mustert den Raum. Alle befinden sich in irgendwelchen Gesprächen, hauptsächlich in Paarkonstellationen. Die Stimmung scheint insgesamt locker. Die Bar wirkt angenehm beleuchtet, das ist nicht unwichtig im Berliner Winter. Erkenne den Fehler, denkt er sich und wartet, ob sie in den nächsten Sekunden losprustet.
– Denk doch mal nach, setzt sie nach einer Pause fort, wir sind wahrscheinlich ein ganz ordentliches Team.
– Und wie stellst du dir das vor?
– Es muss nicht unbedingt in Weiß sein, geht auch in Brokat. Du mit einer sauberen Hose und im gebügelten Hemd. Ich im Kleid, das mir der neue Arbeitgeber sicherlich vorstreckt.
– Das meinte ich nicht.
– Naja, wir können auch erstmal eine Probezeit von zwei Monaten oder so einrichten. Dann sehen wir weiter, ob es passt.
Jean muss lachen.
– Willst du schon jetzt, beim Heiratsantrag, den ersten Clinch? Guck dich an, was Besseres findest du auf die Schnelle nicht. Deine Haut ist ganz rot. Dein Gesicht vom Alkohol aufgeschwemmt. Dein Verhalten ist nicht gerade proaktiv. Mit über Dreißig wird es insgesamt nicht einfacher.
Etwas Warmes breitet sich in Jean aus. Maja wirkt in diesem Moment äußerst attraktiv, denkt er, als er sie genauer betrachtet. Sie hat ein schmales, aufmerksames Gesicht. Schon Falten und zwei, drei graue Haare, die ihn nicht weiter stören. Sie wirkt unsicherer als sonst. Klar, sie hat jetzt etwas zu verlieren. Aber das Angebot klingt fair. Und ihre Beschreibung trifft ins Schwarze. Wenngleich sie sich für die Sache mit dem Alkohol ja selbst verantwortlich zeichnet.
– Und warum bist du der Meinung, ich wäre der Richtige?
– Das war jetzt keine Erleuchtung, eher ein gründliches Nachdenken. Aber auch nicht übermäßig. Habe dich in den letzten Nächten beobachtet, auch als du bereits eingenickt warst. Es hat mich nichts an dir gestört. Ich finde einfach, das Gesamtpaket stimmt.
Jean blickt an sich herunter. Seine Hände zittern. Dagegen, gegen ihr Angebot, hat er eigentlich nicht so viel einzuwenden. Und er würde jetzt gerne eine Zigarette rauchen. Maja liest seine Gedanken und schnippst ihm eine aus der brandneuen Packung Lucky Strike.
– Danke! Zur Feier des Tages. Ich dachte immer, du drehst selbst. Und jetzt?
– Trinken wir erstmal einen Riesling. Den Besten. Und dann gehen wir vielleicht away.
– Polnischer Abgang, fragt Jean.
– Ja, aber diesmal zusammen.
Jean zündet die Kippe an und bläst frischen Rauch aus seinen Lungen.
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Gott sieht alles
Veröffentlicht in zugetextet (11/12, 2021) Die Sonne fällt in die gebräunten Nacken. Ein Köter dreht sich dreimal im gedrängten Radius, bevor er mit Leidensmiene in dessen Mitte scheißt. Sein Besitzer, ganz in weiß gekleidet, stülpt das Tütchen gelangweilt mit der Hand um und sammelt die trockene Fäkalie ein. Er zaubert eine weitere Plastetüte hervor und zieht noch eine darüber. Eine Arme-Leute-Matrioshka. Dann markiert der Hund den nebenstehenden Hydranten, der unmerklich zittert.
Auch Yolanda schleicht, weil es die Geister vertreibt, jeden Morgen einmal rund um ihren Stand mit biscoitos der Marke GLOBO, Strandtüchern und Billig-Christusfiguren. Ihre Haut ist von einem Schweißfilm überzogen. Sie reibt sich die schweren Brüste, die sich den Platz auf ihrem Körper in all den Jahren verdient haben und sich in aller Seelenruhe erstrecken. Sie waren Knospen zur Zeit der Militärdiktatur, in voller Blüte im Plano real, weich und ansehnlich zu Zeiten der legendären Dilma Roussef und sind jetzt zwei welke, schwermütige Pensionäre geworden. Nun steht FORA auf der einen Brust, BANDIDO! auf der anderen. Sie glaubt an die Magie ihres Körpers, an die Energieströme und die Bissigkeit von Ausrufezeichen.
Yolanda zählt ihr Wechselgeld mechanisch wie ein Mähdrescher. Selbst in hundertfacher Verlangsamung wären die Augen zu träge, einzelne Geldscheine auseinander zu halten. Ein leichter Windzug davon kämpft nun vergeblich gegen die schwere, heiße Luft an.
Yolanda hat in besseren Zeiten drei Kinder in die Welt katapultiert. Luís wohnt in der Schweiz und sendet in regelmäßigen Abständen Bilder von der Physiognomie der schneebedeckten Alpen, Kürbis hat eine riesige Nase mit Warze und ist leicht entflammbar, und der Jüngste, Rodrygo, ist faul, sitzt in der schattigen Wohnung und ernährt sich von Keksen, die er in seinem Zimmer hortet, weil er ein Kauz ist.
„Wenn die Leute da draußen wüssten, dass ganze Land eine einzige Depression ist, hätten die uns schon längst platt gemacht“, murmelt sie.
Zu Zeiten des Karnevals wachsen Yolanda, wie dem ganzen brasilianischen Volkskörper, die Haare und die Nägel stärker. Aber etwas ist dieses Jahr anders. Alles wächst umgekehrt: ihre Haare versammeln sich in der Luft um ihren Kopf herum, verknoten sich mit Dingen, die der Wind aufwirbelt und verbinden sich erst nach und nach mit der Kopfhaut, bevor sie schließlich mit der Wurzel in ihre Rübe eindringen. Daher zieht sie wie ein Magnet ständig Zeug mit sich, das nicht zu ihr zu gehören scheint.
Außerhalb des Landes meint man, der ganze Nippes würde getragen, um sich zu verkleiden. Überhaupt machen die Ausländer alles falsch, denkt sie. Jeder weiß doch, dass man im Sommer nicht mit lässiger Kleidung antanzt. Da findet man die vor Kältestupor in die Sitze gekrümmten Körper in der Metro, dem Bus oder dem Kinosaal. Unsere Klimaanlagen leisten Dienst nach Planwirtschaft, ganz ohne überflüssige Diskussion. Dass man da nicht nachreguliert, sollten die Gringos mit den blendenden Bermudas eigentlich geschnallt haben.
Heute hat sie noch nichts an den Mann gebracht, die Leute geben einfach kein Geld in Krisenzeiten aus, denn niemand wird für seine Arbeit bezahlt. Die Polizei wird nicht bezahlt. Lehrer werden nicht entlohnt. Und die Renten werden nicht ausgeschüttet. Nur der mega-sena steht bei 38 Millionen. Sie sollte endlich Lotto spielen, ihr Horoskop, das sie letzte Woche im Bus ins Zentrum aufgeschnappt hat, lässt einiges erhoffen.
Die Gringos kaufen ihr, wenn sie nicht nur Wasser für das Ablöschen ihrer roten Haut benötigen, ab und an ein Strandtuch ab oder eine Packung biscoitos, die sie manchmal zurückgeben wollen, weil sie nach nichts schmecken. Verlangen dann ihr Geld zurück, obwohl die Packung bereits geöffnet wurde. Yolanda schüttelt nur mit dem Kopf, „nee nee nee“. „Und doch schmecken sie“, sagt sie, wenn sie die Wutanfälle ausgesessen hat, zieht etwas Nasenschleim hoch und fächert sich mit dem Geldbündel Luft zu.
Aber selbst die Touristen haben kaum Kröten, weil sie beständig ausgeraubt werden oder von den Taxifahrern verheizt, die ihr Taxometer vor jeder Fahrt auf 20 Mücken justieren. Manchmal setzen Fahrer die blassen, ortsunkundigen Käsemenschen an einem beliebigen Punkt aus und lassen sie von den Favela-Banden mit den mehrfach vernarbten und zahnbespangten Gesichtern ausrauben. Die geben den Taxifahrern zwanzig Prozent Anteile an dem Diebesgut, manchmal eine stehen gebliebene Uhr, manchmal ein Telefon, manchmal einen Silberring mit Stück Ringfinger dran, der in aller Eile abgetrennt wurde. Ein Taxifahrer berichtet, er könne sich aus allen angeschwemmten Körperteilen einen Homunculus basteln, der Esperanto spricht.
Selbst die Karnevals-Trucks dieses Jahr sind in erbärmlichem Zustand und knacken gewaltig. Manchmal zerbrechen sie sogar und die Tänzer wirbeln durch die Luft und fallen auf den harten Boden des Sambódromos. Alle sind erschüttert und wackeln mit den gefederten Prachtärschen um die blutenden Verletzten. Dann laufen die Newsschleifen am unteren Bildschirm ohne Unterlass, besonders auf dem Sender mit dem Weltkugel-Logo: 13 Verletzte, teilweise schwere und unkittbare Trümmerbrüche sind zu verzeichnen. Einige Tage darauf gewinnt Flamengo die Stadtmeisterschaft und es gibt ein Feuerwerk, das die pervers weißen Zähne der Betrachter aufglänzen lässt. Selbst bei den Malträtierten strahlt das frisch vernarbte Hautgewebe, dass es eine Pracht ist.
„Alle sind hier traumatisiert“, befindet Yolanda und nickt einem Passanten zu, der ihre Waren liebäugelt und weiterzieht. Er schaut sich noch einmal um. Dann rafft sie ihre Bluse hoch und zeigt ihm kurz ihre Brüste, die auf seiner Netzhaut noch sekundenlang nachwabern. Der Passant, dem das alles viel zu schnell ging, streckt den Daumen in die Höhe, unklar ob dies den willkommenen Zustand ihrer Titten anzeigt oder ob er die politische Performance gutheißt. „Gehört zum Business“, sagt sie trocken. Dann legt Yolanda sich die Brüste wieder zurecht.
Ihr Blick wandert auf die flackernden Schlagzeilen der Zeitungen: In der einstigen Prachtarena Maracanã gibt es statt Fußball jetzt Katzenbündel, die sich vermehren bis sie platzt. Das Echo trägt das Miauen der struppigen Viecher über die ganze Stadt, denn das Stadion ist leer, die Sitzschalen rausgewuchtet und verkauft an das 1982 gegründete, längst privatisierte Brasilianische Raumfahrtprogramm, das bereits Flüge zum Mond versteigert. Damals standen die Brüste Yolandas in voller Blüte und der kleine Luís strampelte in ihrem Bauch. „Heute operiert sich ja jedes junge Ding Silikon in die Titten und streckt sie voraus wie ein Schiffsbug“, sagt sie. Der mit Jesusfratzen zugekleisterte Hydrant brodelt und droht unterdessen, wie ein Kessel zu platzen.
Sie wacht von einem Nickerchen durch eine Vibration auf und lässt die Zunge über die bepelzten Zähne tanzen. Rodrygo ruft an und spricht langsam, aber ungeduldig. Er habe zu viel von den biscoitinhos gemümmelt, dann sei seine Freundin reingeschneit, hat ein in seiner Hand befindliches Gebäck zerbrochen, ihn angebrüllt und kräftig zusammengefaltet. Dann habe sie, sagt er mit erstickter Stimme, die letzten Haschkekse aus dem Fenster bugsiert und ihn in der Wohnung eingeschlossen. Rodrygo sitzt zitternd im Dunkeln, weint und halluziniert, wenn sie ihn richtig versteht. „Die hat den Schlüssel weggemacht und da draußen ist überall Stacheldraht“, wiederholt er.
Yolanda versucht ihn mit Worten, die an der Süße der Verniedlichungen fast zuckerkrank werden, zu trösten. Doch sie kann nicht weg, das Geschäft läuft heute ganz wunderbar und die Gringos kaufen, ohne mit der transparenten Wimper zu zucken, Strandtücher und Kekse bis zum Abwinken, sagt sie. Dann beendet sie das Gespräch.
Sie schaut hoch zum strahlend blauen Himmel, murmelt „Gott sieht alles“ und klopft anschließend acht Fliegen zu Brei. Wieder kommt der Hund vorbei, dreht sich dreimal im Kreis und scheißt in dessen Mitte. Der Besitzer liest das Stück auf, wickelt es nun in ein Stück Zeitungspapier mit der Fresse des Präsidenten und schämt sich. Dann gibt es eine Explosion, die alles mit sich reißt.
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Schneeblind
Im Hintergrund Schnee und ein paar menschenleere, dicht an dicht aufgestellte Baracken, an denen klirrende Eiszapfen das Licht brechen. Eine kleine Stadt, irgendwo in der Endlosigkeit des europäischen Kontinents, einer terra incognita. So weit, dass die Landkarten an diesem Punkt der Erde regelmäßig abgeschnitten werden, da sich nichts außer einer schier endlos fortschreibenden Fläche darauf befindet, die alle Maßstäbe ad absurdum führt. Seit Monaten hat es nur Frost gegeben. Und doch bewegen sich hier Menschen und das verbliebene Vieh gegen den eisigen Wind und das Schneetreiben fort.
Torres erblickt das alles. Das Schneegestöber legt sich immer wieder über seine Netzhaut und lässt das Bild verschlieren. Manchmal aber sieht er für einige Momente klar: Das bereits verwüstete Gebiet ist verlassen worden. Nur die Verletzten kehren noch zurück in die Stadt, von der sie nicht einmal wissen, ob es noch die ihre ist oder vielleicht ein inmitten des Schneetreibens provisorisch im Sumpfgebiet neu errichtetes Lager.
In zwei Richtungen wird marschiert, eisig aneinander vorbei, ohne einen Verkehr von Blicken. Vor dem Eis, wie ein Schatten in der Luft liegende Stahlgerüste und Gestelle. Für viele Dekaden errichtet, dort in den Schnee gepflanzt, metallstrahlend und sich in die Menschen fortsetzend, bis in ihr Rückenmark. Hinten die Soldaten wie in Eisen gegossen, Gewehre angesetzt, schräg über ihre Köpfe hinweg. Verwüstete Gesichter ziehen aus der Stadt aus. Weiter vorne die verzweifelten Bewohner, die sich aneinander festhalten, weiter fortschleppen in ihren verlumpten Kleidern, spärlich und ungeordnet sich zurücktragen aus der immer noch blutig giftenden Menschenschlacht. Sie schütteln sich die kristallenen Eisblumen von den vor Kälte steif gewordenen Wintermänteln und atmen einfach ungerührt weiter. Führen ihren Weg fort in ein ungewisses Zuhause. Die Kälte beißt unerbittlich und trocken in die Gesichter. Eisblumen zerstäuben, wenn sie der heiße, alkoholische Atem eines Vorbeilaufenden trifft.
Torres‘ Körper ist einigermaßen intakt. Die Narben längst verheilt. Torres atmet auch noch. Er ist auf der Suche nach dem Biest, das ihm in den vergangenen drei Jahren, die das Elend schon dauert, der einzig warme Ort gewesen war. Während der letzten Gefechte hat er das Tier zurücklassen müssen. Die über seinen Körper einfallende Hitze war schneller gewesen als die Vernunft. Er erinnert sich an das zersplitterte Glas und das heftige Atmen und dass er sich den Kopf am herunterhängenden Fensterrahmen verletzte. Das Trommelfell seines linken Ohres war aufgrund der Explosion gerissen. Die Glassplitter in seine Haut gebohrt. Nur raus hier, hatte er gedacht.
Dass er wegen dem Köter zurückkehren würde. Einmal hat er ihn fast einen Finger gekostet. Seine Zähne hat das Biest in seine Hand gejagt, weil es vom knurrenden Magen ganz irre geworden war. Das warme Blut schoss wie wild aus Torres‘ Pranke. Mit der anderen Hand hat Torres das Tier in betrunkenem Zustand gezüchtigt, bis ihm keine Kraft mehr zur Verfügung gestanden hatte. Dann ist die unterwürfige Kreatur so etwas wie sein Begleiter geworden. Verstehe einer die Viecher.
Torres‘ Augen sind auch jetzt schutzlos. Er möchte die Finger in die Schicht des weißen Kristalls versenken. Bis sie rot glänzen und zu Stechfingern werden, wie er das nennt. Dann die beiden Augen damit massieren. Doch das Bücken wird ihm einen miesen Schmerz bereiten. Jetzt kehrt er also auch zurück, wie die Mitlaufenden, denkt er. Anfangs haben ihn seine eigenen Schritte noch überrascht. Denn es gibt hier nichts mehr für ihn. Von Mal zu Mal ist es weniger geworden. Er muss kurz am Wegesrand anhalten und eisige Luft schöpfen.
Ein Hinkender, der ihm entgegenkommt, sagt: In der Schlacht steigt dir das Blut in die Augen. Man erkennt dann nichts mehr, nur seinen eigenen Pulsschlag als periodische Trübung des Augenfeldes. Rötlich tanzt und zittert es. Der Blick nach innen nichts weiter als das Weiten der Blutgefäße. Ein anderer, der während des Sprechens manchmal einzelne, kariöse Zähne ausspuckt, sagt: Das Marschieren ist, ob nun Krieg oder Einzug der Massen in ein Kaufhaus mit angekündigter Rabattaktion, mir doch immer dasselbe. Eine Musik des Blutes, das rhythmisch in den Kopf hinein pocht. Jeder denkt an den Marsch, wartet darauf, dass ein Schrei vollzogen wird, von da vorn vielleicht, zu den Waffen, Alarm, und die Massen sich ineinander stürzen, damit das Morden beginnt, ob nun mit dem Gewehr, der abgebrochenen Klinge eines Bajonetts oder dem letzten verzweifelten Mittel, das dir bleibt: der bloßen Faust, die sich schon in der Tasche ballt. Ein dritter mit einem zugenähten Auge und den Händen fest an der Hose sagt, dass man für den Moment, wenn es hitzig wird, wenigstens über die unerträgliche Kälte hinwegkommt. Deshalb, berichtet er, hoffen einige insgeheim darauf, auf einen Ausbruch des Geschehens, um für einige Momente am Tag nicht mehr frieren zu müssen. Wer weiß schon, wann in diesen unsicheren Zeiten dem Körper wieder Nahrung zugeführt wird, sagt er noch. Dann wendet er sich wieder seinem Schmerz zu und reibt beidhändig weiter an seiner Augennaht, die in einem nervösen Rot schattiert ist.
Torres nimmt einen Finger voll Salbe aus der kleinen Metalldose und reibt sie in sein Sehorgan. Er verwendet nicht mehr, als er wirklich benötigt. Nicht mehr lange, denkt er, und auch sie wird schließlich aufgebraucht sein. Er versucht nun, in dem alles umfassenden Weiß etwas auszumachen, doch die Augen schmerzen. Sie gehorchen ihm nur noch in Momenten. Das ständige Frieren kostet Energie und setzt auf Dauer den Sinnen zu. Also weitergehen.
Dass die Kälte endlich aufhört und die ewigen eintönigen Gedanken beim Marschieren! Ein paar Soldaten mit Kindergesichtern rotten sich nun in einer Formation zusammen. Jetzt der Schritt der vorderen Reihe nach links. Die erste Reihe hat sich umgewendet, ohne einen Blick zurück. Dort die Schritte, brausend, man muss schnell hinterher, von überall aus den Dörfern schließt man sich an, es wird auch etwas Schnaps gereicht. Den warmen Mantel eines gefallenen Bruders, die Winterstiefel eines Toten und vielleicht eilig in dem gefrorenen Boden Verscharrten gibt es noch dazu. Geschichten werden erzählt, die nach Eisen schmecken, wenn man sie aushustet. Auswirft aus den kahlen Rachen und von den Schreien heiseren Sprechapparaten.
Torres hat die Geschichten schon längst gehört, jede einzelne von ihnen. Und auch weitererzählt. Er kennt die Veränderungen, denen sie in den vergangenen Jahren unterlegen sind. Er wendet sich wieder ab von den Wahnsinnigen. Er schweigt. Das stumme Atmen ist mit der Zeit zu seiner Sprache geworden.
Neben einer der verlassenen Baracken erkennt er einen Fleck, der eigenartig zittert. Er geht darauf zu. Mit jedem Schritt mischt sich eines der Bilder, die ihm seit Wochen oder Monaten zusetzen, in seine Wahrnehmung. Jetzt kann er schon die Brandwunde des am Boden liegenden Hundes sehen, die sich von den Hinterläufen über den kahlgebissenen Teil des Rückens zieht. Ein räudiges Stück Schmerz, den der Rest des Körpers ausreißen und abstoßen möchte. Der Köter ist hin, wird sich wahrscheinlich selbst auffressen und später ein Teil des Sumpfgebiets werden, denkt er. Niemand wird auch nur ein Wort oder eine Kugel an ihn verschwenden. Dann werden weiße Punkte in sein Sichtfeld gestreut.
Er greift hektisch in seine Hosentasche. Noch etwas Pomade drückt er sich verzweifelt ins Auge. Ein ungeheurer Kontrast bildet sich und kippt das Bild mit einem Mal um. Wie das Negativ einer Fotografie sieht es aus. Dann ziehen die Schlieren darüber. Weiße Flecken stören das Bild. Schneegestöber legt sich wieder vor Torres‘ Augen, es bleibt nichts mehr zu sehen, als unendliches Weiß, das ihm in die Augen sticht. Er kennt das Wort, wusste, dass er irgendwann dahin kommen würde. Schneeblindheit, so der Name. Er wirft die Metalldose in den Schnee und kann sich ausrechnen, dass niemals ein Geräusch vom Aufschlag erfolgen wird.
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Karibisch
Der Ball zirkuliert durch die gegnerischen Reihen. Von der Zwölf zur Sieben zur Zehn wird er nach vorne getrieben. Das gegnerische Team streichelt ihn. Wie einen kühle Perlen werfenden Gerstensaft, den man einem abstinenten Trinker nach Stunden des Liebäugelns auf den feuchten Tresen gehoben hat.
Uns bleibt nichts als hinterherzulaufen, kopflos und irrlichternd sind wir von den andauernden Richtungswechseln. Immer muss man mich mit zügigen Ausrufen von einem Ort zum Anderen kommandieren. „Die Halbräume pendelnd besetzen“, „in den Deckungsschatten vorstoßen“ und „die zweiten Bälle erobern“, raunt es von der Seitenlinie. Heute sind das Fremdworte für mich. Ich erkenne meinen Mitspieler DAN VAN BOYD, Nummer 22, von weitem, zwinkere ihm innerhalb von Sekundenbruchteilen zu und weiß nicht, ob er es überhaupt bemerkt hat. Er blickt nicht gerade glücklich aus dem luftig aufbrechenden Kragen, obwohl er, anders als ich, einige Male drauf und dran ist, seinem Gegenspieler die Kugel abzufischen. Manchmal schaue ich einfach in die Wolken und sehe tatsächlich zweite, dritte und vierte Bälle vorüberziehen.
Ich versuche mich also ganz wahllos im sich ständig verschiebenden Raum hin und her zu bewegen. Aus bloßer Wahrscheinlichkeit müsste mir die Pille ja irgendwann vor die Füße rollen. Doch Pustekuchen. Sie fliegt über mich, unter mir und durch die Hosenträger. Ich schlittere ins Leere, als würde ich versuchen, meinen eigenen Körperschatten zu fangen. Mit einer einfachen, lächerlichen Täuschung kann man meinen trägen Leib ins Nirgendwo gleiten lassen. Man vernascht mich wie ein süßes Zuckerli. Und es geht uns allen so. Wir sind eine ganze Reihe sauber durchnummeriertes Konfekt, das man sich zurechtgelegt hat wie Kinder zum Einschlafen in der Kindertagesstätte.
Nur einmal die Ellenbogen ausfahren und dann mittenrein in die Fresse ziehen, denke ich in einem schwachen Moment. Doch was soll ich sagen: Der Gegner schafft es nicht, den Vorteil in Zählbares umzumünzen. Im Gegenteil: Er läuft, nachdem schon etwas Zeit abgelaufen ist, mehrere Male Gefahr, ganz sicher scheinende Pässe nachlässig in unsere Füße zu spielen. Womit wir jedoch nichts anzufangen wissen. Wir sind es kaum gewohnt, den Ball überhaupt am Fuß vorwärts zu treiben und lassen ihn unterwegs einfach brachliegen, weil wir mit den Gedanken an das, was wir als nächstes mit ihm anstellen wollen, immer schon weiter sind als unsere Glieder, die nichts von alledem einlösen. Ich erinnere mich: das Verlieren des Balls kann ganz absichtlich geschehen. Eine gefestigte Formation durch den vermeintlichen Vorteil des kurzzeitigen Ballgewinns aufgelöst werden oder wenigstens in Unordnung geraten. Dann sitzt man in der Falle und das geifernde Raubtier, das dir für kurze Zeit nur zur Täuschung einen Ausweg geboten hat, schnappt zu, gleitet blitzschnell durch die erschlossenen Räume. Kalkuliertes Scheitern.
Doch auch wir gewinnen nun immer mehr Sicherheit hinzu. Die Gesichter der gegnerischen Mannschaft beginnen sich unruhig zu verzerren, auch ihnen unterlaufen einfache Fehler. Anfangs aus schlafwandlerischer sprezzatura, die an pure Arroganz grenzt. Später aus der aufziehenden Unsicherheit, die sich nach einigen Fehlern einstellt und das lästige Nachdenken über den eigenen Körper in Gang bringt. Als würde man die Beine eines Tausendfüßlers einzeln aufeinander abstimmen müssen. Manche von denen stehen, haben sie den Ball verloren, schon mit Fäusten in den Hüften gestemmt wie Dampfhämmer, wühlen sich aufgeregt im CR7-Schmalzhaar oder plärren wie aufplatzende Geysire.
Dann endlich: mein Team startet nach Minuten einen seiner ersten Gegenangriffe. Wir spielen uns in der Erwartung des sich öffnenden Horizonts zur Mittellinie und bemerken, als wir von unseren Füßen aufschauen, dass das Spielfeld geteilt wurde und in der Mitte einfach abbricht. „Wegen einer Umleitung von dem Straßenverkehr“, sagt jemand, den ich noch nie gesehen habe, bleckt die Zähne und weist auf das Hinweisschild. Wohl die südamerikanische Neuverpflichtung, die neu in den Kader gerutscht sein muss. Gerüchte hatte es in den vergangenen Wochen ja ohne Ende gegeben. Ein rotes Haarband hält seine prächtigen, gewachsten Locken im Zaum, seine Koteletten kann er schon zu Zöpfen flechten. Auf seinem Rücken steht LUJS ORGE, als Rückennummer ist eine schiefe 8 aufgedruckt. „Des Verkehrs“, belehrt ihn ein anderer Mitspieler, der ein paar Semester Germanistik studiert hat. Und setzt hinzu, dass sich die zweite Hälfte des Spielfeldes wahrscheinlich auf der anderen Seite der giftigen, vierspurigen Schnellstraße fortsetzt.
Und tatsächlich, hinter der Mittellinie wartet lediglich ein Gitterzaun und dahinter nichts weiter als eine eilig betonierte Trasse, auf der einige Gestalten um die 24/7-Spätverkäufe umherschleichen. Blasse Mütter mit ihren Kinderwägen und aufglühenden Glimmstengeln sowie am Gitter festgekrallte Jugendliche, denen der Schnaps der wie eine Gischt vorüber gezogenen Nacht bereits zum Verhängnis wird. „Folgt mir“, ruft der verschwitzte Käptn unserer Mannschaft, treibt uns mit einer Handbewegung zusammen, rückt die gespannte Kapitänsbinde an seinem Oberarm zurecht und spritzt dann unserer ausschwärmenden Gruppe vorneweg, die geschickt die Fahrbahn überquert.
Wir laufen, noch immer den Ball am Fuß, durch Tunnel, stickige Abstellräume, Unterführungen und Treppenhäuser mit eng geführten Geländern. Versuchen Schilder auszudeuten. Können die zweite, sich fortsetzende Hälfte des Spielfeldes aber nicht finden. Einige von uns sind in der Zwischenzeit verloren gegangen und haben sich mit lauwarmen Getränken versorgt. Man kann von weitem erkennen, wie die Körper dampfen. Sie lehnen jetzt an den Kinderwägen im Gespräch mit den Müttern, die nach einer sauberen Windel und etwas Aufmerksamkeit für ihre in den Kinderzimmern verschütteten Reize suchen. Doch im Straßenlärm wollen die Gespräche nicht recht in Schwung kommen. Man hinterlässt einen schweren Blick und bewegt sich wieder auseinander. Die übrig gebliebenen Mitglieder des Teams spielen sich den Ball zu, immer in der Konstellation von sich ständig neu, flüssig ausbildenden Dreiecken. Die Maschine läuft wie geschmiert und wir fühlen uns unverwundbar. We go with the flow, sagt einer, auch wenn aufgrund des Fehlens des Spielfeldes irgendwie der Grund von allem abhanden gekommen ist.
Nur wenig später kehren wir schon in eine Bar ein, in der ich schon einmal gesessen bin. Irgendwo im Umland, vermute ich, da die Straßennamen hier weiß auf blau auf den Schildern prangen. Wir versacken nach einigen nach Leichtfüßigkeit duftenden Pässen im Gespräch mit einer bunten Gruppe Rentner. Sonntäglicher Frühschoppen. Ich richte den Blick in den aufschäumenden Bierseidel. Die vom Schaum verbliebenen Flecken richten sich nacheinander wie Wolken aus. Ich verliere die Konzentration und lasse die Kohlensäure des Biers meinen Gaumen streicheln. „Der zweite Teil des Spielfeldes ließ sich eben nicht mehr auffinden und wir sind immer weiter ermüdet. Trotzdem konnten wir unsere Leistung ja abrufen und die Vorgaben unseres Coaches wenigstens teilweise umsetzen“, so diktiert unser Veteran DAN VAN BOYD zusammenfassend die Sprachnachricht in sein Smartphone. Dann legt er die Beine hoch. Einer der Alten, der Zausel mit der Brille mit blinkendem Goldrand muss es gewesen sein, meint und rechnet in sein verwackeltes Lächeln bereits das Schenkelklopfen seiner hautgefalteten Saufkollegen ein, ich wäre, insgesamt gesehen, noch viel zu jung, um anständig Fußball zu spielen. Weniger akribisch, mehr karibisch, rät er mir, im vertrauten Berliner Dialekt. Er verspeist mit einem beherzten Biss seine Brezeln und leitet die dritte Halbzeit ein. Ich denke, der sieht sogar dem Schiedsrichter ähnlich, folge dem Muster der Altersflecken auf seiner Hand und versinke mit den Gedanken im Bierglas.
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Nachbilder
Flimmernde Äste, die ineinander verschlungen sind, ein Fischmaul mit zwei unflätig glotzenden Augen, denke ich etwas zu erahnen, als der blasse Eindruck sich von den Rändern her auflöst. Blinzle gegen die durch die Scheibe einfallende Sonne und beobachte die Lichtpunkte auf meiner Netzhaut, die wieder zerstieben.
Ich öffne die Augen und blicke aus dem Reisebus auf die sich abspulenden Wälder, die immer seltener werdenden Sonnenstrahlen und das am Horizont auftauchende Meer. Der Bus fährt seit Stunden auf der einspurigen Landstraße. Ein Seitenblick auf meinen Sitznachbarn, der mithilfe von Zahnstocher und einem fleckigen Handspiegel die Fasern einer Cervelatwurst der Marke LUMP, die er als Reiseverpflegung mitgenommen hat, aus dem Mund ans Tageslicht hebt, lenken mich von weiteren Beobachtungen ab. Zerstreut lese ich in einem Buch und lege es nach einigen Sätzen wieder weg.
Als die Sonne gegen den Spiegel reflektiert und mir in die Augen sticht, lacht der bürstenschnittige Wurstesser auf. Dann deutet er das Wort granica, Grenze, aussprechend aus dem Fenster und wendet sich wieder an das Aushöhlen seiner stummen, endlos dauernden Wurst. Sein Mund ist ein einziges Mühlwerk, er scheint unabhängig von ihm zu arbeiten. Vielleicht ist er Gefangener seiner riesigen Beißer, die unaufhörlich Beschäftigung von ihm einfordern, denke ich, und nur in den Augen steht das einsame Leiden eines eigentlich schlechten Essers geschrieben. Doch ich wage es nicht, ihn noch einmal mehr in die Augen zu schauen. Später ziehen die Plattenbauten als erste Anzeichen der Stadt vorüber, in welchen auch der Wurstmann verschwindet, von einer vielköpfigen Entourage fortgeschleppt. Er verkleinert sich schnell unter Schubsern und sogar vereinzelten Schlägen seiner Kameraden. Er bleibt mir als ein etwas grober Mensch in Erinnerung.
Alle Städte gleichen sich darin, denke ich, als wir wieder anfahren – dasselbe Netz von Ausfallstraßen, die gläsernen Baumärkte mit Angestellten, die ihr Leben lang diese Melancholie des Betonierten in sich tragen, die Parkplätze und Laternen, die in regelmäßigen Abständen aufgestellt sind. An einem Busbahnhof, der in der Dunkelheit eher einem Hinterhof ähnelt, steige ich vor Müdigkeit und Erwartungen zitternd in die Nacht. Ich schaue mich um – außer einem EKSPRESSBUS, der auf seinen letzten Morgen zu warten scheint, gibt es dort nichts. Bis auf einige steinerne, graue Gebäude aus den fünfziger Jahren, die mit heruntergelassenen Rollläden schlafen. Die letzten Fahrgäste werden allesamt von Verwandten erwartet. Nur ich bin als einziger ohne ein in die Wärme lockendes Motorengeräusch geblieben.
Ich nehme mir die Karte hervor, markiere meinen Standort als einen Punkt, der ein Loch ins abgewetzte Papier reißt, und laufe die Straßen entlang des eingezeichneten Weges ab. Es ist still, einige Vögel beginnen bereits zu singen, die aufziehende Kühle treibt sich mir unter die Hosenbeine. Irgendwann auf dem Weg sehe ich meine Gestalt im Halbdunklen gegen ein Schaufenster gespiegelt und beruhige mich kurz, als ich meinen eigenen Körper so ganz vollständig wieder finde. Als wäre die Aufmerksamkeit, die meinen Körper zusammenhält, noch immer auf den Wegmarken der Reise verblieben und ich müsste mich erst nach und nach wieder zusammensetzen. Ich laufe weiter, zwinkere dem Schatten eines Penners zu, dessen klumpiges Lallen aus diesem Fleck Dunkelheit zu mir dringt und versuche, das saugende Geräusch unter meinen Turnschuhen auszublenden, das immer verzögert einsetzt. Es ist schon fast morgens, als ich endlich das Hostel in der Nähe des Hafens erreiche und man mir schweigend, aber der Uhrzeit vollständig angemessen, den Zimmerschlüssel aushändigt. Der fahle und übernächtigte Nachtportier versäumt es nicht, den Schlüssel zur besseren Anschaulichkeit in einem mit seinen Fingern nachgebildeten Schloss zu drehen, macht mit der Zunge ein schnalzendes Geräusch und blickt mich aus rotgeäderten, weit aufgerissenen Augen an. Ich nicke und lege mich für die erste Nacht in einem Zimmer schlafen, das beinahe nur aus einem in die Mitte des Raumes gestellten Bett, einem Metalltisch ohne zugeörigen Stuhl und einer leeren Emailleschüssel besteht. Dann lasse ich die Bilder in mir kreisen.
Ich laufe in den folgenden Tagen ziellos durch die unbekannte Stadt – jede neu entdeckte Straße, jede Verschiebung der Perspektive in den Häuserreihen trägt ein Versprechen auf der nächsten Biegung. Das Straßenpflaster tönt von den Schritten und den Stimmen der Menschen hinter mir, es hallt in den engen Gassen, in welchen sich die Menschen bei den jungen Mädchen in Trachten Esskastanien und feuchte Träume verschaffen. Ich schnappe nach den sich immer wieder auflösenden Bildern, verlasse die engen und verrauchten Mauern der Stadt, bis ich, in einem vergangenen Jahrhundert spazierend, an den Holzhäusern des alten Zarenreiches entlang gehe. Dann bin ich wieder am Hafen angekommen: von hier aus sind die fetten Kanonentürme zu sehen, dort glitzert das Sonnenlicht, das von dem Kirchturm der Oleviste in meine müden Augen scheint. Mir wird schwindelig. Das Flimmern in den Augen verschmilzt mit der wirren, sich windenden Oberfläche des Meeres.
Immer öfter gelingt mir es mir nicht, zu schlafen bei den Gedanken an den zu Ende gegangenen Tag. Alma mit den bronzenen Haaren, die ich erst in den letzten Tagen hier im Hostel bemerkt habe, treffe ich immer wieder in schlaflosen Nächten in der Küche an. Wir lesen dann beide. Der Wasserkocher brodelt, schäumt und pfeift heißen Dampf hervor, wenn ich zwischen den Wörtern zu ihr aufsehe.
Ich mag dich, sagt sie dann in ihrer Sprache, die ich immer besser verstehe.
Ihr linkes Auge bleibt manchmal beim Lesen der Zeilen stehen, was wohl bedeutet, dass sie schon fast eingeschlafen ist. Diese Sprache muss aus der Erde kommen, so versuche ich nun die Theorie meiner langen Nächte zu erklären – aus der Erde, deren Geruch und Kühle hier in jedem Wort mittönen, zusammen mit dem Pfeifen des Windes, der die Laute verklärt und dem Regen, dessen feine Verwischungen vielleicht die Umlaute geformt haben: Steckt nicht ein dichter Wald, dunkle Nächte und ein ewig dahin treibender Wind in dem Wort für Nacht, öö, das sich bis in den nächsten Tag hinein zieht? Ich suche in meinem Mundraum nach vertrauten Schwingungen. Alles was geschieht, ist aber, dass die Schrift auf den Getränkekartons plötzlich auswächst, sich verästelt wie Schlingpflanzen und die Farben der Verpackungen gegen das Neonlicht zu flimmern beginnen. Ich bin wohl übermüdet vom Laufen durch die Straßen und mein jetziger Zustand, mein von den Hoffnungen eingeigeltes Gesicht, macht keinen guten Eindruck auf Alma. Sie ist schon gähnend auf dem Weg in ihr Zimmer, kaum dass ich wieder aus meiner grellen Einsamkeit zu ihr aufgesehen habe.Die letzten Halbbilder vor dem Einschlafen: Das abgetragene, poröse sowjetische Arbeiterrelief an der Außenwand des zerfallenen Hauses, der zerfurchte Blick der Alten in der über das Pflaster ruckelnden Straßenbahn und wie sich der Himmel anfühlt, wenn er gerade über dem Kopf dunkel ausläuft und den Magen anhebt vor Verzweiflung über die Abwesenheit von Licht.
Es ist nun Winter geworden, die Dunkelheit steckt in meinem Körper und ziehe ihn einem Insekt gleich an das künstliche, klebrige Flackern der Straßenlaternen und die Versprechungen der Mädchenbeine vor den Nachtclubs. Es heißt nun manchmal ein wenig betäubt sein von den schon mit der Dämmerung einsetzenden Tagen, dem Lichtflimmern vom Hafen her, den unmenschlich beschleunigenden Beats und des Verstummens des Lachens der Mädchen innerhalb des einsetzenden Schneefalls. Ich laufe nun immer öfter zur Promenade, gehe bis an das Kriegsdenkmal spazieren, an welchem die Pubertierenden sitzen, mit ihren überdimensionierten Kopfhörern Musik hören und wohl nicht einmal erstaunt aufgeblickten, würde das Denkmal plötzlich, gleich einer sowjetischen Rakete, in den Himmel abheben. Auch innerhalb der Stadt finde ich mich nun besser zurecht, laufe an den dicken Stadtmauern entlang und kann schon die Schritte zählen, die es dafür braucht. Aber auch jetzt gleiten die Blicke der Mädchen an mir ab und meine Theorie über die Sprache scheint stecken geblieben zu sein. Alma lässt sich immer seltener in der Küche sehen, vielleicht ist sie schon von hier in aufregendere Unterkünfte weitergezogen. Immer gleichgültigere Menschen treffe ich nun auf dem Flur oder in der gemeinschaftlich benutzbaren Küche, aus Teilen des Landes vielleicht, die noch immer nicht verstanden haben, was mittlerweile geschehen ist.
Einmal mehr gehe ich die Straße entlang. In meinem Augenwinkel ein alter Mann auf der anderen Straßenseite. Er läuft über die Straße, schief versetzter Oberkörper, beugt sich plötzlich nach vorn über, der kann sich wohl unmöglich so auf den Beinen halten, droht jeden Moment zu fallen und – stürzt vor ein Auto, das gerade noch stoppen kann. Dort liegt er im schwachen Tageslicht der Scheinwerfer, ich laufe zu ihm und blicke ihn an. Ein verschrecktes Gesicht. Helfe ihm auf, stütze ihn, gehe mit ihm in den nächsten Shop, um einen lächerlichen, mithilfe von Schnaps gereinigten Wundverband zu besorgen. Wir sitzen jetzt – er ist notdürftig verbunden und schaut mich aus zusammengekniffenen Augen an – auf einer Bank der Trambahnhaltestelle und schweigen lange. Er zittert immer noch, die Wunde brennt und er hält seine leere Plastiktüte fest, die mit kyrillischen Buchstaben bedruckt ist. Einige Autos und Busse fahren an uns vorüber und scheren sich nicht um uns einzelne Menschen.
– LUMP, sagt er dann nach einer Pause, rollt die Plastikfolie von einer halb angenagten Wurst und zeigt eine unvollständige und dennoch prachtvoll hervorblitzende Zahnreihe. –
Er verschwindet mit der nächsten Straßenbahn, zu der ich ihn an meinem Arm geführt habe. Ich sehe noch das blutige Taschentuch dort liegen, das als Wundverband seiner Haut gedient hat, wie es sich leicht mit dem Wind fortbewegt und auch meine Gedanken treiben davon, ins Meer und vermischen sich mit den übrigen Stimmen.
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Der Schmetterling
Veröffentlicht in Schreib (13/2008)
Er las Bücher, um seine Feinde zu kennen, ein verkniffenes, gebeugtes Männchen, das beim leisesten Lichtstrahl, der durch die Vorhänge fiel, mit den trockenen Augen unaufhörlich blinzelte, das faltige Gesicht zusammenzog, zu husten anfing, die mageren, knöchrigen Hände zum Himmel beschwörend erhob und von Rückenschmerzen stechend ermahnt den Weg zum knarrenden Holzstuhl zurückfand, nicht bevor er die Enden der Vorhänge pedantisch genau auf eine für die stolze Sonne undurchdringbare Linie gebracht hatte.
Er rechnete Stunde um Stunde mit der ihm verhassten Welt ab, das kleine Kämmerlein als ein aufmerksamer Wächter regierend, der sich immerwährend die Suppe vom letzten Tag erwärmte (wurde sie denn nicht immer weniger?), mit seinen Schreibgeräten schimpfend, die schweigend und kalt, geometrisch exakt auf dem Tisch angeordnet und dem alten verlausten Hund, der vor lauter Fußtritten das Jaulen schon verlernt hatte und seinen verletzten, wunden Körper nur noch durch die Gegend schleppte und seinen eigenen Hinterleib auffraß, eine bitterböse Fratze schneidend.
Hätte er aber damals, neunzehnhundertneunundvierzig, aufbrausend wie er war, dennoch verschüchtert, das Mädchen mit den blonden Zöpfen gefragt, ob sie etwa ein Kugeleis mit ihm essen wolle, in der Eisdiele am Freibad – und sie hätte unbedingt mit ‚ja’ geantwortet – säße dann nicht hier ein aufrechter Mann, die Vorhänge weit geöffnet, die frische Luft trinkend, wie das Kleinkind aus der Brust der Mutter, die Briefe und die Tageszeitung energisch für seine neben ihm gerade aufgewachte Frau kommentierend, der morgendliche Tee auf dem Tisch dampfend, der seit Jahren mit etwas Rum versetzt ihm die Fahrt zur Anwaltskanzlei in der allerersten Klasse des Geschwindigkeitszuges erleichterte, auf dieser Reise jedermann, der ihn in seiner tadellosen Aufmachung ansah, unterwürfig Demut anzeigte (manche flogen auch wie ein wahrhaftiger Ball zur Seite, mit den Kiefern klackernd)?
„Sieh Ingeborg“, so hätte er damals weit in die Luft aufschauend gesagt, die herablaufenden Tropfen von der Eistüte geleckt und ihre Überraschung und Unsicherheit vorausgesetzt, schüchtern seine junge Hand angeboten, „der Schmetterling, sein Flügelschlag…“
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